Fröhlich, aufgestellt, energiegeladen – und ein Leben mit einer seltenen Krankheit. Das ist Vanessa Grand. Die Walliserin weiss, was sie will: Sie hat Medien und Kommunikation studiert, ist Journalistin, steht als Sängerin auf der Bühne, engagiert sich mit grossem Elan für die Themen «Krankheit und Behinderung». Dass sie damit auch ab und zu auf Gegenwehr stösst, ist ihr bewusst. «Wer sich einsetzt, setzt sich aus» lautet ihr Motto. In ihrer Freizeit ist sie gerne unterwegs, liest und bastelt gerne und geniesst das Leben.
Vanessa ist auch Mitglied des Patientenbeirats der SPO. Wir haben mit ihr gesprochen:
Welche chronische Krankheit begleitet dich in deinem Leben und seit wann?
Ich lebe mit Osteogenesis imperfecta (Glasknochen). Dies ist eine seltene Krankheit, genetisch vererbbar, seit Geburt.
Warst du lange auf der Suche nach der richtigen Diagnose oder wurde sie zufällig gestellt? Hast du Empfehlungen für Patienten, wie damit umzugehen ist?
Mit 7 Monaten hatte ich meinen 1. Bruch, rechter Oberschenkel. Für meinen damaligen Hausarzt war relativ schnell klar, dass dies nicht «normal» ist. Er vermutete die Diagnose Glasknochen bereits. Die Brüche häuften sich anschliessend schnell. Genetische Untersuchungen haben dann schnell gezeigt, dass ich von Glasknochen betroffen bin. Bei der Diagnosestellung war ich ca 1.5 Jahre alt. Meine Diagnose wurde somit recht früh gestellt.
Bei seltenen Krankheiten ist eine Diagnosestellung oft sehr intensiv und langwierig. Meist dauert es zwischen 5 und und sogar bis zu 30 Jahre, bis eine Diagnose gestellt werden kann. Nicht selten werden ca. 7-10 verschiedene Ärzte konsultiert. Ich kann empfehlen, intensiven Kontakt mit den Ärzten (Hausarzt/Kinderarzt) zu pflegen und darauf zu beharren, dass nur schon bei Verdacht auf eine Krankheit weitere Wege zur Diagnosestellung eingeschlagen werden. Eine weitere Empfehlung ist es auch, spezialisierte Organisationen aufzusuchen (wie die SPO oder MaRaVal) oder Beratungsstellen, welche behilflich sind, weitere Schritte in die richtige Richtung zu gehen.
Wie beeinflusst die Krankheit dein soziales Leben? Was wünschst du dir diesbezüglich?
Oft ist es nicht einmal die Krankheit, die mein soziales Leben beeinflusst. Es sind die Strukturen und deren Fehler, welche meinem sozialen Leben Steine in den Weg legen: Zum Beispiel die fehlende hindernisfreie Infrastruktur von Freizeit/Kultur/Tourismusanlagen, fehlende hindernisfreie Mobilität (ÖV), fehlende Gesundheitsversorgung zu Hause, und und und. Da leidet auch immer wieder das soziale Umfeld darunter.
Was war dein prägendstes medizinisches Erlebnis, ob positiv oder negativ, und wie hat es dich beeinflusst?
Ich könnte sowohl positiv als auch negativ viele Beispiele aufzählen. Um spontan eines herauszupicken: Als ich 2019 mit beidseitiger Unterschenkelfraktur ins Spital eingeliefert wurde, verweigerte das regionale Spital die Zusammenarbeit mit der Klinik meines Vertrauens – die Klinik, in dem alle meine Operationen durchgeführt wurden und die vor allem besondere Kenntnisse meiner Erkrankung hat. So habe ich (noch von der Notfallstation aus) eigenständig Kontakt mit der Klinik aufgenommen und entschieden, dass konservativ behandelt werden kann, ohne Operation, aber mit Schienung und 3 Monaten ohne Mobilisation (24 Std Bett). Das regionale Spital beurteilte trotz Glasknochen meinen Spitalaufenthalt als «medizinisch nicht begründbar» und begann (ohne mein Wissen) mit der Suche nach einem Alters- und/oder Behindertenheim. Diese Überweisung ist ihnen jedoch nicht gelungen. So verlegte man mich auf die Geriatrie in ein sogenanntes «Wartebett», bei dem man mich gezwungen hatte (unter Schmerzmittel/Betäubungsmitteln) einen Vertrag zu unterschreiben für die Übernahme der Kosten von Fr. 160.- pro Tag. Ich hatte keine Wahl, sprich: Mir waren damals meine Optionen nicht bewusst. Dies nur ein Teil der Geschichte von 2019, deren Konsequenzen ich heute noch zu tragen habe.
Empfehlung SPO: Was Sie tun können, um Zusatzkosten zu vermeiden, lesen Sie im Blogbeitrag „Wenn eine Hospitalisation zum finanziellen Albtraum wird„
Ein positives Erlebnis: Positive Momente erlebe ich immer in der Klinik meines Vertrauens. Konsultationen, Behandlungen und Entscheide werden hier gemeinsam mit dem Patienten getroffen. Es besteht eine Vertrauensbasis, ich habe dort meinen «sicheren Ort».
Ein weiteres «prägendes Erlebnis» positiver Art (stark abgekürzt): Die Frakturen 2019, auch wenn die Erlebnisse im regionalen Spital sehr schlecht waren, haben rückwirkend einen positiven Effekt gehabt. Ich bin ein Jahr danach, 2020, dennoch ins regionale Spital in die Rehabilitation gefahren. Dort arbeitete mein ehemaliger Physiotherapeut, der mich bereits kannte und nicht von «null» anfangen musste. Nach wenigen Tagen stellte er mir eine Frage: «Kannst du laufen?». Ich verneinte mit der Begründung « das schaffe ich nicht und ich bin so klein, das sieht doof aus». Doch seine Frage liess mich nicht los. So versuchten wir, mich kurz auf die Beine zu stellen. Eine Woche später konnte ich einige Schritte am Bettrand abgestützt gehen. Mittlerweile laufen wir in der Therapie mit einem kleinen Rollator immer einige Meter. Auch wenn es niemals für den Alltag reichen wird, gesundheitlich und auch mental hat es mir einen enormen Aufschwung gegeben.
Was ist dein Leitsatz für das Leben mit einer Krankheit und was gibt dir Mut, damit umzugehen?
Heute habe ich eigentlich keine Leitsätze mehr. Ich weiss, dass ich eine seltene Krankheit habe. Ich weiss, dass zu jeder Sekunde ein Bruch geschehen kann. Aber es ist nicht stetig in meinen Gedanken. Da würde ich mich selber hindern, «zu leben». Ich bin Gott sei dank sehr resilient. Ich liebe das Leben, ich liebe es, aktiv zu sein und das gibt mir immer wieder den Mut und den Auftrieb, nicht aufzugeben.
Was ist dein persönlich wichtigstes Hilfsmittel für dein Wohlbefinden und wie hat es dir geholfen?
Mit meiner Behinderung benötige ich viele Hilfsmittel. Wenn ich sie nicht hätte, wäre ich viel öfter noch von anderen abhängig. Aber das Wichtigste ist definitiv der Rollstuhl.
Was gibt dir in schwierigen Situationen Halt und wie gehst du damit um?
Ich habe meine Eltern, die mich unterstützen. Ich habe auch gute Freunde, die für mich da sind. Die Musik, welche mir Kraft gibt. Meine zweite Heimat Südtirol, die mir am Herzen liegt. Aber ich habe auch das Wissen, dass ich es immer wieder geschafft habe, Lösungen und Wege zu finden. Ab und zu auf Umwegen und mit Kompromissen, aber so ist es auch für Menschen ohne Krankheit.
Wie bist du Mitglied im Patientenbeirat der SPO geworden und was sind deine Aufgaben dort?
Eine ehemalige Studienkollegin und frühere Mitarbeiterin der SPO rief mich an und sagte «Vanessa, ich habe dich immer als einen toughen Menschen erlebt, der auch über seine Krankheit spricht, offen ist und sich einsetzt. Es fehlt uns noch eine Patientenvertretung im Stiftungsrat». Ich habe zugesagt, dann ging es relativ schnell. Als die Idee eines Patientenbeirates Formen angenommen hat, bin ich vom Stiftungsrat ausgetreten und in den Patientenbeirat eingetreten. Ich bin der Überzeugung, dass ich hier mehr beitragen kann.
Was hat dich dazu bewegt, dich für diese Aufgabe zu engagieren?
Es war immer schon so: Wenn das Gesundheitswesen MIT den Patienten auf Augenhöhe zusammenarbeitet, dann funktioniert es besser. Leider klappt dies nicht überall. Es ist seitens des Fachpersonals nicht immer möglich, die Patientenseite zu kennen. Wer nicht mit einer Krankheit lebt, der kennt nur jene Fakten, die in den Lehrbüchern stehen. Doch vom «Leben mit….» steht dort nichts. Damit sich diese Zusammenarbeit in Zukunft verbessert, zum Standard wird, möchte ich mich engagieren. Aber auch «Sensibilisierungsarbeit» ist ein Teil meiner persönlichen Aufgabe. Ich möchte auch der breiten Öffentlichkeit zeigen, wie es ist, mit einer Krankheit/Behinderung zu leben – nicht nur die negativen Seiten, auch die positiven.
Welche Ziele möchtest du mit deinem Einsatz im Patientenrat erreichen?
Aufgaben und Ziele gibt es viele: Sensibilisierung, Information, Forschung, Lehre/Weiterbildung. Ein zentrales Thema ist die Partizipation! Teilhaben und mitreden, unseren Erfahrungsschatz einfliessen lassen.
Was ist dir bei dieser Aufgabe besonders wichtig und welche Werte verfolgst du dabei?
Wie bereits erwähnt: Ich habe es immer erlebt, dass ein Krankheitsverlauf positiver verläuft, wenn die Zusammenarbeit zwischen Patient und Fachpersonal harmoniert und auf Augenhöhe geschieht. Es geht um gegenseitigen Respekt und Anerkennung. Hierarchie ist in diesen Momenten fehl am Platz. Auch wenn ich allerhöchste Wertschätzung für die Ausbildungen der Ärzte und Therapeuten habe. Jedoch dürfen auch sie nicht vergessen, dass der Patient, den sie behandeln, auch ohne medizinischen Werdegang je nach Krankheit viel Erfahrung mitbringt. Bereits als Kind hat mir der Arzt in der Klinik beigebracht, Röntgenbilder zu lesen.
Welche Erwartungen hast du als Patientin an einen Arzt oder eine Ärztin und was ist dir dabei besonders wichtig?
Ich erwarte eine professionelle Arbeitsweise: Dazu gehört für mich Begegnung auf Augenhöhe, klare und verständliche Information, Zusammenarbeit und gemeinsame Entscheidungen betreffend Behandlung und Therapie. Und ab und zu auch mal über den Tellerrand hinaus denken. Natürlich wünsche ich mir auch angemessene Kommunikation und Empathie (kein Mitleid).
Basierend auf deinen Erfahrungen im Gesundheitswesen, welche Empfehlungen möchtest du Patient*innen mit auf den Weg geben?
Viele Strukturen im Gesundheitswesen sind ohne Einbezug der Patient*innen entstanden. Ein Paradigmenwechsel ist im Gang, auch zum Thema Hierarchie. Wenn ich Patient*innen Empfehlungen abgebe, ist eine der ersten Dinge: Nachfragen bei Nichtverstehen, nachfragen bei offenen Fragen, Einbringen von Möglichkeiten (Behandlung und Therapie) und nicht «locker lassen». Sicherlich kann eine Kontaktaufnahme mit Beratungsstellen und Patientenorganisationen wie die SPO hilfreich sein.
Wie kann die SPO deiner Meinung nach Patient*innen unterstützen und welche Möglichkeiten siehst du für eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung?
Eine Patientenorganisation hat die Möglichkeit, stärker in die Strukturen des Gesundheitswesens einzugreifen. Wichtig ist es, Missstände zu eruieren und Verbesserungen zu erarbeiten: Vom Leistungsträger bis hin auf politischer Ebene. Denn hier werden die Grundsteine gelegt. Patient*innen selber finden in einer Organisation wie der SPO einen kompetenten Ansprechpartner in Sachen Information, Koordination und Beratung. Durch die mitgeteilten Erfahrungen und Erlebnisse der Patient*innen werden Problemfelder erst sichtbar.
Möchtest du noch etwas sagen, das wir mit unseren Fragen nicht angesprochen haben, aber dir noch wichtig erscheint?
Ich lebe mit einer Erbkrankheit. Viele Krankheiten führen im Laufe des Lebens zu einer Behinderung, so wie bei mir. Daher sind für mich Krankheit und Behinderung eng miteinander verbunden. In der Schweiz findet am 24. März zum ersten Mal die Behindertensession statt. Ich habe mich zur Wahl gestellt und wurde als eine der 44 Parlamentarier und Parlamentarierinnen gewählt. Ich sehe dies als wichtiges Zeichen, Es geht um Visibilität: Nachdem die Schweiz ein schlechtes Zeugnis bei der Kontrolle der Durchführung der UNO-Behindertenkonvention erhalten hat, ist es wichtig, dass unsere National-, Stände- und Bundesräte die Möglichkeit haben, mit uns vor Ort, im politischen «Machtzentrum» der Schweiz, reden zu können. Menschen mit Behinderung müssen, sollen und dürfen sichtbar sein. Sie müssen auch die Möglichkeit haben, vollständige Teilhabe in Politik und Gesellschaft in Anspruch nehmen zu können. Patient*innen und Menschen mit Behinderung müssen gehört und gesehen werden! Die Behindertensession ist der erste Schritt, aber sicher nicht der Letzte.
Die SPO ist sehr dankbar für Vanessas grosses Engagement im Patientenbeirat und dafür, dass durch diese tatkräftige Unterstützung unsere Sichtweise und Arbeit für Patient*innen gestärkt wird.
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