Das Schweizer Gesundheitswesen ist komplex und kann schnell unübersichtlich werden – grundsätzlich und umso mehr für Menschen, die in einem anderen Land aufgewachsen sind. Sprachliche und oder kulturelle Barrieren gibt es immer wieder. Wir wollten wir von Daniel Tapernoux, unserem langjährigen Berater und Facharzt für Innere Medizin, wissen, was diesen Patient*innen bei einer ärztlichen Behandlung erwartet. Er hat in seiner Tätigkeiten vieles erlebt und gesehen und kann auf Basis seiner Erfahrung wertvolle Tipps geben.

 

An wen soll ich mich in einer gesundheitlichen Notsituation wenden? Eine Frage, die viele Patient*innen beschäftigt, und die im komplexen Schweizer Gesundheitswesen nicht immer eindeutig zu beantworten ist. «Das Wichtigste ist, zwischen einer lebensbedrohlichen Situation und einem weniger akuten Fall zu unterscheiden. Jeder Arzt und jedes Spital wird eine Person in akuter Not behandeln, unabhängig vom Aufenthaltsstatus der betroffenen Person. Wird vermutet, dass beispielsweise das Herz (starke Brutschmerzen) oder das Hirn (Halbseitenlähmung, Sprachstörung) betroffen sind, oder liegt plötzliche starke Atemnot vor, dann wird jeder Mediziner handeln. Ausserhalb eines lebensbedrohlichen Notfalls gibt es hingegen keine klare Behandlungspflicht» sagt Daniel Tapernoux.

Kann ein Spital meine Behandlung verweigern?
Die Gründe, weshalb ein Arzt oder ein Spital die Behandlung verweigern könnten, liegen auf den ersten Blick auf der Hand: Sind Personen wie zum Beispiel Flüchtlinge (noch) nicht in der Schweiz versichert, stellt sich immer die Frage der Finanzierung. Es lohnt sich deshalb für Betroffene in einem solchen Fall, die Finanzierung vorgängig zu überlegen und zu klären. «Ärzte sind verpflichtet, vorgängig über die Kosten zu informieren» so Tapernoux. Auch lohnt es sich als nicht-versicherte Person, Finanzierungsmöglichkeiten der Kantone zu klären, in denen man sich aufhält. Manche Kantone sprechen sogenannte «Notfallhilfe».

Es ist jedoch nicht nur die Finanzierung, sondern der generelle administrative Aufwand, welcher die Behandlung einer nicht-versicherten Person schnell zu kompliziert machen und somit zur Behandlungsverweigerung führen kann. Deshalb empfehlen wir jede Person, sich schnellstmöglich in der Schweiz krankenversichern zu lassen. Für Flüchtlinge bedeutet dies zuerst einen Antrag auf Asyl oder Schutzstatus S zu stellen.

Wann soll ich den Hausarzt konsultieren?
Die Schweiz hat ein historisch verankertes dezentrales Hausarztsystem. «Ausser im akuten lebensbedrohlichen Notfall sind der Haus- oder Kinderarzt (= Grundversorger) respektive städtische Notfallpraxen wie Permanence immer die erste Anlaufstelle, nicht der Notfall im Spital». Dies gilt besonders für Flüchtlinge, welche bei Privatpersonen untergebracht sind. In Asylzentren übernimmt das «medic-help» diese Rolle und triagiert anschliessend entsprechend weiter.

Eine Konsultation verläuft immer nach einem festen Schema: Im Gespräch wird zuerst der persönliche Gesundheitszustand erfasst (Anamnese). Anschliessend erfolgt eine Untersuchung und, je nach Bedarf, eine technische Zusatzuntersuchung (wie zum Beispiel Röntgen, Labor, etc.), bevor der Befund und die weitere Vorgehensweise in einer Nachbesprechung besprochen werden. «Ein Hausarzt wird dabei immer sehr problemorientiert und kurz vorgehen, wohingegen Spitäler, in denen gravierendere und lebensbedrohliche Fälle eintreffen, viel umfassender abklären. In diesem Fall sind die medizinische Vorgeschichte oder zum Beispiel die aktuelle Einnahme von Medikamenten wichtiger Bestandteil der Anamnese».

Angehörige mitnehmen
Daniel Tapernoux rät, wann immer möglich eine Vertrauensperson mitzunehmen. Und dies in erster Linie wegen der (menschlichen) Unterstützung. «Ich habe immer wieder erlebt, dass Patient*innen misstrauisch sind, wenn Sprachbarrieren vorliegen und sie sich nicht verstanden fühlen. Personen wie Flüchtlinge können im schlimmsten Fall traumatisiert sein, Gewalt erlebt und ein tiefschürfendes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen haben. Fühlt man sich in so einem Fall nicht verstanden, dann entstehen gefühlte Fronten, was Ängste oder gar Aggressionen auslösen kann. Eine Vertrauensperson oder Angehörige können Patient:innen in solchen Fällen einfacher beruhigen als fremd wirkendes Spitalpersonal».

Spitäler unterstützen bei Sprachbarrieren
Für die Sprachbarrieren haben Spitäler meist Listen mit den Sprachkenntnissen der Mitarbeitenden und für einzelne wichtige Gespräche sogar Zugang zu interkulturellen Übersetzer*innen. «Unabhängige Übersetzungen sind wichtig. Manchmal ist es für Angehörigen aus verschiedensten Gründen schwierig, diese Rolle wahrzunehmen. Wichtiger ist aber, dass eine professionelle Übersetzung die grösstmögliche Sicherheit bietet, dass der/die Patient*in die Situation vollumfänglich verstanden hat», erklärt Daniel Tapernoux. So kennt er einen Fall, bei der sich eine fremdsprachige Person mit einer Diskushernie nicht operieren lassen wollte, trotz andauernder Lähmungserscheinungen. Nur die interkulturelle Übersetzung konnte klären, dass dies effektiv der Wunsch des Betroffenen war und kein Missverständnis auf Basis der Sprachbarriere vorlag.

Daniel Tapernoux rät Betroffenen zum Schluss des Gesprächs, eigene Traumata ernst zu nehmen und, wann auch immer möglich, behandeln zu lassen. Menschen auf der Flucht zum Beispiel wurden extremen Situationen ausgesetzt. Jede lebensbedrohliche Situation, ob unmittelbar oder diffus, ist eine Krafteinwirkung auf die Seele, welche verarbeitet werden muss.

Weitere medizinische Informationen für Flüchtlinge können in unserem Ratgeber (Deutsch, Ukrainisch, Russisch) nachgelesen werden. Haben Sie trotzdem weitere Fragen? Dann erreichen Sie uns in dringenden Fällen über unsere Hotline: 0900 567 047 (CHF2.90/Min.). Wir helfen Sie wo immer möglich gerne weiter.