Die Zahlen sind dramatisch: Deutlich über 2000 Pflegefachpersonen geben in der Schweiz jedes Jahr ihren Beruf auf, und weil nicht einmal die Hälfte des eigentlichen Bedarfs neu ausgebildet wird, sind an die 10’000 Stellen nicht besetzt. Dass die Gesellschaft immer älter – und das heisst auch: immer pflegebedürftiger – wird, verschärft das Problem weiter: Bis ins Jahr 2030 werden rund 65’000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt.
Pflege-Unterversorgung ist eine Gefahr für Patient*innen
Hier muss dringend gegengesteuert werden, denn wenn immer weniger Pflegende immer mehr Patient*innen betreuen müssen, geht das auf Kosten der Versorgungsqualität und nachweislich auch auf Kosten der Patientensicherheit: Studien zeigen, dass das Sterberisiko von Patient*innen um 12 Prozent steigt, wenn in einem Spital 10 Prozent weniger ausgebildete Pflegefachpersonen arbeiten. Umgekehrt gilt: Wo mehr diplomierte Pflegefachleute arbeiten, gibt es weniger Komplikationen.
Deshalb startete der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) im Jahr 2017 die Pflegeinitiative. Sie fordert in Kürze:
- Aus- und Weiterbildung stärken, nicht zuletzt finanziell: Der Ausbildungslohn zur diplomierten Pflegefachperson muss erhöht werden, um den Beruf für Berufseinsteiger*innen und (als Weiterbildung) für Fachfrauen und Fachmänner Gesundheit attraktiv zu machen.
- Einen verpflichtenden maximalen Pflegeschlüssel: Wie viele Patient*innen eine Pflegekraft parallel zu betreuen hat, muss (je nach Fachbereich verschieden) begrenzt werden: zur Qualitätssicherung, für die Patientensicherheit, aber auch zugunsten der Pflegenden selbst: Unrealistische Anforderungen und das Bewusstsein um Missstände, die aber nicht angegangen werden, sind Gründe, wieso so viele aus dem Pflegeberuf aussteigen.
- Pflegeleistungen angemessen abgelten: Heute decken die geltenden Tarife und Beiträge Pflegeaufwände nicht sachgerecht. Das setzt für die unter Kostendruck stehenden Spitäler den falschen Anreiz, Stellen mit weniger gut ausgebildetem Personal zu besetzen – oder gar nicht.
- Verbesserungen der Arbeitssituation: verlässliche Arbeitszeiten und Dienstplanung (nicht zuletzt für einen bessere Familienkompatibilität), geregelt über einen Gesamtarbeitsvertrag oder ein GAV-ähnliches Modell
- Eigenständige Pflegeleistungen anerkennen: Viele Leistungen können Pflegefachkräfte problemlos ohne ärztliche Anordnung erbringen. Sie sollten diesen Teil ihrer Arbeit eigenverantwortlich mit der Grundversicherung abrechnen können.
Die SPO unterstützt diese Punkte voll und ganz, ebenso wie viele Berufsorganisationen im Gesundheitswesen und Politiker*innen aller Parteien.
Gegenvorschlag des Parlaments: besser als heute, aber nicht genug
National- und Ständerat haben die Pflegeinitiative leider dennoch abgelehnt und einen Gegenvorschlag vorgelegt. Dieser greift zwei der fünf genannten Forderungen auf: Bund und Kantone würden eine Milliarde Franken (verteilt über acht Jahre) für eine Ausbildungsoffensive zur Verfügung stellen, und auch die selbständige Leistungsabrechnung für Teilbereiche fand die Zustimmung des Parlaments.
Das wäre sicher eine Verbesserung gegenüber der heutigen Situation, und das Initiativkomitee diskutierte daraufhin, ob es sich die Initiative zurückziehen sollte. Es hielt aber schliesslich daran fest, das Volk entscheiden zu lassen. Und das ist nachvollziehbar. Denn der Gegenvorschlag ist zwar durchaus ein Bekenntnis zur Stärkung des Pflegeberufs. Ein solches Signal, dass die Politik die grosse Bedeutung der Pflege im Puzzle der Gesundheitsversorgung und den Missstand wahrnimmt, den die heutige Situation darstellt, haben die Pflegenden lange vermisst.
Nur ein JA zur Pflegeinitiative bringt nachhaltige Verbesserung
Doch ein wichtiger Punkt fehlt: die Nachhaltigkeit. Wenn man Geld in die Pflegeausbildung investiert, aber nichts an den Zuständen ändert, die die hohe Zahl an Berufsaussteigern begünstigen, droht diese Investition zu verpuffen. Die neu Ausgebildeten müssen auch im Beruf bleiben – «sonst ist das so, als würde man versuchen, ein Sieb mit Wasser zu füllen», wie es SBK-Präsidentin Sophie Ley treffend formuliert. Um dies zu erreichen, braucht es auch die anderen von der Initiative geforderten Punkte: Massnahmen für verlässliche und familienverträgliche Arbeitsbedingungen und ganz einfach: mehr Personal, damit Qualität und Patientensicherheit sichergestellt sind, und damit die so wichtigen Pflegefachpersonen nicht länger in unterbesetzten Schichten verheizt, frustriert und ins Burnout getrieben werden, wie es heute besorgniserregend oft passiert.
Die SPO empfiehlt deshalb ein klares und deutliches JA zur Pflegeinitiative am 28. November.
Im Gesundheitsbereich geht es ja oft auch um’s und ins Geld. Natürlich kosten mehr und besser ausgebildete Pflegekräfte auch mehr – pro Jahr rund 100 Millionen schweizweit wären es nach einer Analyse von Michael Simon, Professor für Pflegewissenschaften an der Universität Basel. Doch diese Kosten werden, so Simon, mehr als aufgewogen: 357 bis 500 Millionen spart die höhere Kompetenz ein, denn teuer sind vor allem Komplikationen, die durch eine bessere pflegerische Überwachung weniger oft auftreten. Weitere 100 Millionen jährlich können durch besser ausgebildetes Personal in den Pflegeheimen eingespart werden. 42 Prozent der Spitaleinweisungen aus Pflegeheimen erweisen sich heute im Nachhinein als unbegründet; gut ausgebildete Pfleger*innen können effektive Sofortmassnahmen ergreifen und solche teuren und unnötigen «Leerfahrten» vermeiden.
Die heutige und die künftig mehr als absehbare Mangelsituation bei ausgebildeten Pflegenden ist auf die Unfähigkeit des Bundesparlaments zurückzuführen, tragfähige Lösungen zu entwickeln. Dessen Gegenvorschlag ist alles andere als zielführend. Vielmehr handelt es sich um eine Fehlinvestition grössten Ausmasses.
Leider befürworten grosse Verbände, im Gesundheitswesen (H+ Die Spitäler der Schweiz, Santésuisse, Curafutara SPITEX Schweiz, Senesuisse, Curaviva.ch) den Gegenvorschlag und lehnen die Initiative ab. Sie haben sowenig wie das Bundesparlament verstanden worum es geht, nämlich einen Missstand zu beheben, den sie selber verursacht haben.
So ist das Volk aufgerufen, dem Parlament und seinen Lobbyisten aus dem Gesundheitsbereich den Weg zu weisen, wie das Problem des Pflegepersonalmangels nachhaltig gelöst werden kann.
Vielen Dank für Ihren Kommentar, Herr Facci. Auch wir sind der Meinung, dass der Gegenschlag bei weitem nicht ausreicht – hoffentlich erkennen die Bürger am 28. November die überragende Relevanz der Pflege an und stimmen für die Initiative.
Im Gesundheitswesen geht es nicht ‚auch‘ sondern vorwiegend ums Geld und – wie in der Wirtschaft allgemein – um Wettbewerb, Macht und Prestige – wodurch vor allem die Mitarbeitenden an der Basis (Pflegende u.a.) am stärksten unter Druck und Stress leiden und ihre mitmenschlichen Kompetenzen zu wenig einbringen können. Frühzeitiger Berufsausstieg Frust und Resignation sind so die verständliche Folge, ganz abgesehen von ungenügenden Salären und Wertschätzung…
Vielen Dank für Ihren Kommentar, Frau Gély. Ich stimme Ihnen absolut zu, dass die Kostenfrage zu Unrecht leider sehr häufig am Anfang aller gesundheitspolitischen Diskussionen steht. Die Konsequenzen sind, wie Sie beschreiben, verheerend für die Menschen, welche sich für den Pflegeberuf entschieden haben – und damit letzten Endes auch verheerend für Patienten.