Die Entsolidarisierung mit kranken und älteren Menschen während der Pandemie spitzt sich immer mehr zu. Angesichts der dramatischen Entwicklungen fordert die SPO Patientenorganisation Bundesrat und Kantonsvertreter*innen in einem offenen Brief zu einem entschlossenen Eintreten für mehr Solidarität auf.
Sehr geehrte Frau Bundespräsidentin
Sehr geehrter Herr Bundesrat
Sehr geehrter Herr Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektionen
Sehr geehrter Herr Präsident der kantonalen Kantonsregierungen
Mit grosser Besorgnis stellen wir fest, dass in unserer Gesellschaft eine Entsolidarisierung zwischen Gesunden und Jungen auf der einen Seite und älteren und kranken Menschen sowie dem Gesundheitspersonal auf der anderen Seite mit grossen Schritten voranzugehen scheint. Davon zeugen schon fast groteske Geschehnisse, die in den letzten Tagen zu beobachten waren, beispielsweise wenn nationale Parlamentarier*innen dieses Landes vor laufender Kamera im Nationalratssaal die Corona-Schutzmassnahmen missachten oder sich öffentlich dazu bekennen, sich über die Festtage nicht an die Schutzmassnahmen halten zu wollen.
Auch stellen wir fest, dass die ebenso simple wie erschreckende Formel «Tote versus Arbeitsplätze» offenbar durch alle politischen Nuancen und Bevölkerungsschichten salonfähig zu werden droht. Dies ist nicht nur grundsätzlich falsch, sondern auch gefährlich, weil diese Formel fälschlicherweise vorgibt, dass wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit Menschenleben aufgewogen werden kann.
Solidarität ist einer der wichtigste Grundpfeiler unseres Gesundheitswesens. Ohne Solidarität ist kein Zusammenleben möglich. Während dieser Pandemie sollte unsere Solidarität den Menschen gelten, welche besonders stark von einer Infektion mit Covid-19 gefährdet sind und daran schwer erkranken und schlimmstenfalls frühzeitig sterben. Vergessen wir nicht: Patient*innen sind von der Pandemie doppelt betroffen. Sie müssen sich nicht nur besonders von einer möglichen Ansteckung mit Covid-19 schützen, sondern auch möglicherweise darum bangen, ob ihre (lebens-)wichtigen Therapien weiterhin durchgeführt werden können.
Unsere Solidarität muss auch dem Gesundheitspersonal gelten, welches sich tagtäglich unter erschwerten Bedingungen um die bestmögliche Versorgung der Patient*innen bemüht. Ohne dieses Personal würde das Wohl unserer Patient*innen noch stärker gefährdet sein.
Wir sehen diese Solidarität in grösster Gefahr.
Gegenüber der dramatischen Situation in Spitälern und Pflegeheimen gibt es hingegen keinerlei Hinweise darauf, dass sich weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens zum Schutz von gefährdeten Menschen langfristig nachteiliger für die Wirtschaftsleistung auswirken, als ständig wechselnde und regional unterschiedliche Schutzmassnahmen.
Wir fordern deshalb:
- Alle notwendigen Schritte, um kranke und ältere Menschen bestmöglich zu schützen, was auch bedeutet, Verstösse gegen verordnete Schutzmassnahmen konsequent zu ahnden.
- Alle notwendigen Schritte, um die Gesundheitsversorgung aufrecht zu erhalten und das Personal in den Gesundheitseinrichtungen nicht über die Grenzen seiner Kräfte zu bringen.
- Öffentliche Bekenntnisse zu und Aufrufe zur Solidarität, insbesondere von politischen Repräsentanten der Schweiz wie Ihnen.
Die implizite Unterscheidung zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben ist einer modernen Gesellschaft nicht würdig. Wir warnen davor, dass sich diese Unterscheidung in der Bevölkerung, aber auch unter politischen Entscheidungsträger*innen zu etablieren scheint, und fordern von Ihnen ein entschlossenes Einstehen für mehr Solidarität.
Unterzeichnende:
Susanne Hochuli, Präsidentin
Peter Berchtold, Vize-Präsident
Susanne Gedamke, Geschäftsführerin
Original des Briefes:Offener Brief an den Bundesrat und Kantonsvertreter*innen